Vita

1955 in Frankfurt/M geboren
Abitur und Tischlerlehre
Studium an der Muthesiusschule in Kiel - Malerei /Grafik
Studium an der Fachhochschule Ottersberg - Malerei
ab 1983 Dozent an der Fachhochschule Ottersberg
von 1996 bis 2021 Professur für Malerei an der Hochschule der Künste im Sozialen HKS Ottersberg
Wohnort und Atelier in Bremen

Ausstellungen

2023 Kunst [ ] Raum "Hier und jetzt!", Bremen
Frank Haus "Von Raum zu Raum" mit Barbara Deutschmann, Marktheidenfeld
2022 Salon kucken kommen, Gruppenausstellung, Bremen
Galerie am Stall, mit Martin Koroscha  "Perspektivwechsel",  Hude
2019 Villa Sponte “[archi]-tektonisch“ mit Ulrike Möhle, Bremen
2018 KunstMix / Autorengalerie "Querbeet 7", Bremen
Kunstverein Lübbecke „Bewegliche Horizonte“, Lübbecke
2017 Galerie Müller & Petzinna "Crossover" mit Barbara Deutschmann, Groß Grönau/Lübeck
Die Galerie im Heuerhau  - mit Stefanie Supplieth, Dötlingen
Kunst [ ]Raum „30 Jahre Kunst [  ] Raum, Bremen
2016 Leonhardt Boldt Galerie "Von Raum zu Raum" - mit Barbara Deutschmann, Eutin
Hafenmuseum  "Schiffsmeldungen"  - mit Maria Mathieu
, Bremen
Kunstverein Rotenburg „Intermezzo“, Rotenburg
2015 Galerie Plus  "Sehstücke"
, Bremen
Kunst [  ] Raum Bremen  "Hotspot",  Bremen
NWWK Worpswede
, "Deux Jà-Vu", mit Christine Völker, Worpswede

2014 Sperl Galerie / Beteiligung an Gruppenausstellung, Potsdam
KunstMix /Autorengalerie “_View", Bremen
Galerie Eisfabrik, Beteiligung an Gruppenausstellung, Bremen
Galerie am Stall mit S. Altmik „Organic“, Hude  
2013 Omnilab-Galerie "Kunst im Labor", Bremen
2012 Galerie Stilhaus Panka " "figurativ_abstrakt_frei", Panka
Kunstverein Stade mit E. Wolf u. B. Möller   „Halfschaft“ , Stade   

_ View: Zwischen-Raum-Schichten
Meike Su

Ständig umgibt er uns. Auch bewegen wir uns permanent in ihm und durch ihn hindurch. Er ist einfach da: Raum. Ob seiner Allgegenwart oder seiner schwer fassbaren Ausmaße – Raum löst nicht nur Faszination aus, sondern reizt zu Fragen, die von Kindern wie Wissenschaftlern oder Künstlern immer wieder gestellt wurden, aber wohl auch zukünftig gestellt werden: Wann entsteht Raum? Wie erfahren wir Raum? Und von welchem Raum sprechen wir eigentlich – müsste nicht die Rede von den Räumen sein?

Die Bilder von Bernd Müller-Pflug sind malerische Untersuchungen dieser Fragestellungen: Streifen schweben in blockartigen Anordnungen durch transparente Farbwolken, organische Strukturen treffen auf geometrische Fremdkörper, verschachtelte Raumperspektiven führen in immer tiefere Bildräume ein. Charakteristisch für seine Malerei ist das Spiel zwischen geschlossenen und offenen Formen, zwischen präzisen Setzungen mit dem Pinsel und frei über die Fläche verlaufende Farbspuren. 

Die Farben sind auf bzw. hinter Acrylglas in mehreren Arbeitsschritten aufgetragen, wobei das Bild quasi rückwärts gedacht werden muss. Das heißt, Linien oder Flächen, die als erstes auf Glas gemalt werden, stehen später im Bildvordergrund, während diese Schichten beim klassischen Malverfahren auf Leinwand eigentlich ganz hinten stünden. Bei einigen Bildern ist die Farbschichtung nicht nur einseitig. Transparente Farbflächen und zeichenhafte Elemente befinden sich gelegentlich auch auf der Glasvorderseite. Neben dieser Besonderheit der Hinterglasmalerei spielt ebenfalls eine Rolle, dass sie seitenverkehrt entsteht. Das begünstigt beim Malprozess den Kontrollverlust, so dass der Zufall an Spielfläche gewinnt. Die Technik dient hier auch der malerischen Strategie, das Selbst zu überlisten. So können Unberechenbarkeiten auf dem Bildträger entstehen, in denen neue Raumvorstellungen Gestalt nehmen. Mit dem ihm assistierenden Zufall spürt Bernd Müller-Pflug diesen Ideen langsam vortastend von Zwischenergebnis zu Zwischenergebnis nach. Schlussendlich entsteht aus dem ehemals flachen Bildträger eine Hinterglasmalerei, die mit teils oft nur dünnen, lasierenden Farbschichten „Raum erzeugt“ ( Zitat Müller-Pflug) 

2009 begann Bernd Müller-Pflug mit den Hinterglasarbeiten. Seitdem umkreisen drei Werkgruppen Fragen der Raumwahrnehmung: between, inside, outside. Innerhalb der einzelnen Werkreihen geht es ihm nicht um eine vermeintlich realistische Wiedergabe von Raumansicht. Vielmehr versucht er dem eigentlich fragmentarischen Erleben von Raum näher zu rücken. Es entstehen „widersprüchliche, utopische Raumzusammenhänge“[1]. 

Trotz aller Irritation, ganz fremd erscheinen uns die Bilder von Bernd Müller-Pflug nie. In Skizzenbüchern sammelt er Eindrücke und Erinnerungen von Raumerlebnissen in seinem Atelier wie auch auf Reisen. Daher steht ihm ein umfangreiches Bildarchiv zur Verfügung, das er mit einfließen lassen kann, wenn er seine Gedanken über Raum in Malerei transformiert. Anklänge an Räumlichkeiten entdecken wir nicht nur in Zeichen, die sich mit architektonischen Grundrissen in Verbindung bringen lassen, sondern ebenfalls in Formen und Mustern, die an anatomische oder mikroskopische Abbildungen erinnern.
between
Horizontale wie vertikale Streifen rhythmisieren die Bildfläche. Nah aneinandergerückt verdichten sie sich zu kompakten, viereckigen Feldern, die einen Kontrast zu den frei auf dem Bildträger verlaufenden Farbwolken bilden. Wie beim Zudrücken des Balgs eines Bandoneons scheinen sich die Streifen zusammen zu ziehen, während sich die offenen Farbverläufe in alle Richtungen ausdehnen. Daneben stehen weiße Leerstellen, die mit den anderen Farben um den Bildraum konkurrieren. Verschiedentlich überlagern sich die Farbflächen oder werden von anderen verdrängt. Manchmal bilden sie ein harmonisches Zusammenspiel aus Fülle und Leere.

Bemerkenswert erscheint das malerische Schwelgen in einer Überfülle an Farbe. Impulsiv drückt sie sich mit einer barocken Prächtigkeit aus. In dieser Reihe dominiert zumeist die Farbe Rot – mit ausladender Präsenz nimmt sie jeden Raum ein. Zwischen dem großen, wuchtigen Farbklang schwingt aber auch noch ein anderer subtilerer Ton mit. Er macht sich dort bemerkbar, wo die Streifen, die durch Abklebungen entstanden sind, untereinander facettenreiche Begegnungen eingehen. Keine exakten und geradlinigen Grenzen bestehen, sondern unregelmäßige und ausgefranste Ränder.

outside
Architektonische Versatzstücke – Fenster, Türen, Treppen, mehrstöckige Bauten –  versetzen uns unmittelbar in den konstruierten Raum. Irritation und Verunsicherung ist vorprogrammiert, denn durch die malerische Abstraktion sowie die variierenden, teilweise konkurrierenden Fluchtpunkten wird eine Standortbestimmung erschwert. Das Verfremden, Auflösen und Zersetzen von Gebäudestrukturen erzeugt eine labyrinthhafte Schönheit, die den Blick des Betrachters immer tiefer in die Bildwelt hinein führt.  

Als wiederkehrendes Motiv fallen hier die Treppen auf, angesichts derer man sich an die Architekturfantasien des italienischen Künstlers Giovanni Battista Piranesi (1720–1778) erinnert fühlt. In seinen künstlerischen Visionen von Kerker- und Folteranlagen steht der Betrachter der Monumentalität des Raumes gegenüber. Es sind fantastische Konstruktionen von Irräumen, in denen das Auge zwar umherwandern aber der bedrückenden Enge der Carceri d’invenzione nicht entfliehen kann. 

In der Malerei Bernd Müller-Pflugs wird der Betrachter wie bei Piranesi zum aktiven Erkunder von unendlich erscheinenden Raumverschachtelungen. Dem Matroschka-Prinzip ähnlich gelangt er von einer Raumtiefe zur nächsten. Doch während es bei Piranesi keine Ausflüchte aus dem Labyrinth gibt, bricht Bernd Müller-Pflug seine Räume mit fragmentarischen Andeutungen, lasierenden Farbschichten und multiperspektivischen Sichtweisen immer wieder auf.


inside
Runde weiche, andeutungsweise vegetabile oder organische Formen, zumeist in blau-grünen oder rötlichen Farbwelten, scheinen leicht und schwerelos im Raum zu schweben. Das Licht, das durch die verschiedenen Farbschichten und die Glasscheibe dringt und zurück reflektiert wird, changiert zwischen einem seidigen Schimmer und kühlem Glanz. Mit diesem eigentümlichen Leuchten erweitert Bernd Müller-Pflug das primär charakteristische Kennzeichen der Malerei – die Zweidimensionale – und schafft durch Farbschichtungen tiefe Flächen und flächige Tiefen. Die vielfältigen Formen animieren die Fantasie des Betrachters: Mit dem Pinsel geschlungene Linien erinnern beispielsweise an die Windungen von Gedärm, die gleichmäßig nebeneinander rund angeordneten Striche dagegen an Früchte oder Schnecken. Assoziationen zu Wasserwelten liegen nah. Doch wäre auch ein mikroskopischer Blick in die Tiefe von lebenden Zellen denkbar. Die Räume, die er hier beschreibt, sind vielfältig miteinander verflochten und alles scheint in Beziehung zueinander zu stehen. Selbst fremdartig erscheinende geometrische Formen werden dem großen Ganzen einverleibt. Beinah könnte man meinen, als wäre das vermeintliche Close-Up eigentlich ein Blick in die Totale und würde eine ganz eigene, uns unbekannte Welt zeigen.

 

_view
Mit dem Blick des Malers versucht Bernd Müller-Pflug das Gefühl von Entgrenzung und Offenheit einzufangen. Im künstlerischen Spiel um die Raumwahrnehmung werden verschiedene Wirklichkeiten vorstellbar, ohne der einen oder der anderen mehr Gewichtung geben zu müssen. Schauen wir von Innen nach Außen, oder doch eher von Außen nach Innen? Und wo stehen wir dann – im Dazwischen? Geheimnisvoll, irritierend, verwirrend, berauschend,… Die Unbestimmtheit dieser Räume steht in einer verblüffenden Analogie zu den aktuellen Diskussionen über die mögliche Existenz von Parallelwelten wie sie nicht zuletzt auch in der theoretischen Physik geführt werden. Die multiperspektivischen Raumkonstruktionen Bernd Müller-Pflugs erweisen sich somit auch als metaphorischer Ausdruck unserer Zeit. Und inmitten der malerischen Komplexität von Vielschichtigkeit wird der Betrachter durch Spiegelung direkt ins Bild geholt. Er befindet sich im between, inside und outside. Die unbestimmten Aussichten besitzen ungewissen Ausgang, denn Fragen der Raumwahrnehmung sind eben auch immer Fragen um den eigenen Standpunkt, um das Selbst. Auf was werden wir also in den unendlichen Raumtiefen stoßen?

zur Ausstellung von BERND MÜLLER-PFLUG   HOTSPOT 

im  Kunst [  ] Raum Bremen, Oktober 2015

 

Ich freue mich sehr, diese zweite Ausstellung von Bernd Müller-Pflug im Kunst [  ] Raum Bremen eröffnen zu können.

Hotspot hat er sie überschrieben  –  zum einen natürlich  bezogen auf seine Arbeiten, zum anderen, zu meiner Freude, auch bezogen auf den Kunst [  ] Raum, der mit seiner Arbeit hier in der Bremer Neustadt, hier in diesen Räumen seit nunmehr 28 Jahren ohne Unterstützung durch öffentliche Mittel und ohne laute Werbemaßnahmen besteht und arbeitet. Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter auf den Kunst [  ] Raum als Institution eingehen, habe aber für diejenigen, die vielleicht erstmalig hier sind und sich dafür interessieren, eine Kurvorstellung in der roten Mappe im Fenster ausgelegt. Also lieber Bernd – hab’ Dank für den Blick auf beide Seiten Künstler/Kunstarbeit und Ausstellungsort, der ja auch ein Ort des Kunstschaffens ist,   bei der Betitelung dieses Ausstellungs-projektes!

 

Für diese  2. Ausstellung haben wir kleine Bilder ausgewählt – im Format fast  alle gleich. Diese Bilder bilden je einen Kulminationspunkt, ein Konzentrat und in ihrer Verdichtung tritt der energetische Aspekt in den Vordergrund  –  es entsteht ein Focus, ein HOTSPOT, im einzelnen Bild wie im Gesamteindruck.

Die Hängung ist in Reihe, gruppiert in Blöcke zu 4 oder 5 Arbeiten. Die Pausen geben bei aller Fülle Raum zum Atmen. Auch für den Künstler selbst bringt dies neue Erfahrungen mit sich  –  

zum einen werden Arbeiten in den Mittelpunkt gerückt, die sonst, neben den großformatigen Arbeiten eben nur die „Kleinen“ sind. Des weiteren kommt hinzu wie diese Arbeiten wirken, ohne Nachbarschaft großer Bilder und in dieser Form der Präsentation.

Die  ursprüngliche Idee, eine strenge Reihe zu hängen, wurde losgelassen, um Raum zum Atmen zu geben und um eine Form zu finden, die die Intensität der Arbeiten, die Intensität ihrer Farbigkeit bändigen kann. Und jeder andere Raum bringt mit den Arbeiten neue Erfahrungen, bringt mit sich,  dass das eigene Werk sich anders und auch mehr erschließt.

 

Und der Betrachter?

Fülle und Produktivität kommt einem entgegen, die einlädt zu einer Entdeckungsreise, einlädt zu wandern und zurückzukommen, nicht unbedingt an ein und denselben Ort!,  zurückkommen auch im Sinne von Wiederholung und in der Wiederholung Neues entdecken.  

 

Bernd Müller-Pflug malt auf Acrylglas, einem transparenten Trägermaterial. 

Das sachlich-nüchterne Material stellt sich gegenüber der Leidenschaft der sinnlich aufgeladenen Farbeindrücke und ermöglicht eine Art Rettung vor der Sentimentalität, wie Bernd Müller-Pflug  beschreibt. Es schafft Distanz. 

Es entsteht ein Eindruck von persönlich und unpersönlich, von Distanz und Nähe, von Fülle und Zurückhaltung, von Intensität und Kraft. 

 

Trennt uns der Glanz vom Bildgeschehen ab?

 

Hinter dem neutralen Acrylglas scheinen die Farben nah und fern zugleich, erhalten durch den distanzhaltenden Glanz noch mehr Tiefe, Leucht- und Glanzkraft. Der Glanz bringt auch Reflexion mit sich – er wirft zurück, weist ab und gleichzeitig bezieht er den 

Betrachter durch die Spiegelung auf andere Weise in das Bildgeschehen mit ein  –  (Selbst)Reflexion.

 

Lag sein Ansatz anfänglich in der Hinterglasmalerei, so wird nun von hinten und von vorne gemalt.

Dies bringt mit sich, dass die Distanziertheit aufgelöst wird. Der Eindruck wird haptischer durch Struktur und Pinselstriche. Es entsteht eine zusätzliche Gestaltungsebene und damit eine neue Art der Zugänglichkeit. Das Bild rückt näher.

Dadurch dass die Farbe von hinten und vorne gemalt wird, verwandelt sich das Bild zu einer Art Objekt. Die Acrylglas-Zwischenschicht wiederum schafft hier einen körperlichen Abstand, einen farblosen Zwischenraum, der die Farbschichten trennt. 

 

In jedem Denken über den Raum kommt die Zeit ins Spiel. Betrachten wir dies also unter dem Aspekt der Zeit:

In der Malerei, üblicherweise, verschwindet die erste Malschicht ganz oder teilweise unter nachfolgenden Schichten. 

Bei der Hinterglasmalerei kehrt sich dieser Prozess um. Die erste Schicht bleibt sie sichtbarste.  Nehmen wir den malerischen Prozess als zeitliches Geschehen, so bewegen wir uns im Vorwärtsgehen, also im Weitermalen in die Vergangenheit, die teilweise durch die erstgesetzte Gegenwart verborgen bleibt. Mit dem Malen von vorne wird die erstgesetzte Gegenwart durch nachfolgende Schichten überlagert, die dann jeweils die Gegenwart sind und die erstgesetzte Schicht Vergangenheit werden lässt.

 

Was geschieht zwischen den Farben, zwischen den Flächen, zwischen den unterschiedlichen Arbeiten?

Und was geschieht zwischen Betrachter und Werk?

Wenn die Bilder sich in uns zurückverwandeln zu Erfahrung?

Auf was treffen sie in uns?

 

Für die Anschauung  der Arbeiten kann ich Sie/Euch nur einladen, unterschiedliche Positionen im Raum aufzusuchen, unterschiedliche Blickhöhen auszuprobieren, denn die Mischung aus Transparenz und opak gemalten Schichten lässt zeitweilig auch unterschiedliche Bildebenen zur Anschauung kommen, verschließt andere l!

Auf diese Weise stehen die Bilder in Beziehung mit ihrem jeweiligen Umfeld.

Nehmen wir uns Zeit, entstehen auch jeden Augenblick neue Verbindungen, nehmen neue Objekte Gestalt an. Sie stehen in Kontakt miteinander, sie klingen zusammen, 

 

korrespondieren,  vermeintlich disparate Elemente treffen aufeinander, Farb- und Formenwelten begegnen sich.  

 

Jedes Bild steht mit jedem anderen durch wiederkehrende Bildelemente in Beziehung.

Es entsteht ein Netz an unterschiedlichen Bezügen und Bezugsebenen im Raum.

Dieses unsichtbare Netz erfüllt den Raum.

 

Farbe ist der Energieträger in einer sehr gewählten Farbpalette. Die Abwesenheit eines direkten Gelb verhindert den Eindruck eine lauten Buntheit. Die Trübungen, durch  milchige Schichten erzeugt, bringen die nachbarlichen Farben zum  Leuchten und verbergen die direkte Kraft anderer Farben. Manche Farben sind sehr viel vertreten, das helle Blau, Türkisblau, die roten Farben. Und manche Farben, wie das helle Blau und das Krapprot ziehen sich wie ein (roter) Faden seit sehr vielen Jahren durch die Arbeit von Bernd Müller-Pflug.    Die Farben sind Feste für die Augen.

 

Auf den halb transparenten Bildern (die 4 etwas größer Formatigen) scheint die Farbe noch mehr zu schweben. Die Acrylglasfläche ist teilweise frei geblieben.

Die dahinter liegende Wand wird ein Teil der Arbeit. Durch den größeren Abstand von der Wand und die Transparenz trägt der Schattenwurf dazu bei, dass ein gleichzeitiger Eindruck von Objekt-/Dinghaftigkeit und schwebender Farbe entsteht.

 

Die Formenwelt ist sehr vielfältig. Graphisch-konstruktive  Elemente, fließende Farbe, architektonische Elemente, eine Mischung aus organischen und artifiziellen Formen, zellartig organische Formen, erinnernd an Körper-Innenräume.

Diese Formenvielfalt lädt auch ein zu Assoziationen hin zur Pflanzen- oder Tierwelt, hin zur menschlichen Sphäre, es sind sowohl gegenständliche Phantasien als in der Abstraktion verweilende Wahrnehmungen möglich. Beispiel: hellblau-karierte Arbeit, mit weißen Flächen, in denen rötlich-weiß Formen sind   –   Assoziation —>  was liegt denn da auf dem Tisch?? aber natürlich liegt nichts auf dem Tisch, obwohl man meinen könnte, es läge etwas da…………

In jedem Fall geht es nicht um die Abbildung organisch-biologischer Dinge.

Auch wenn Bernd Müller-Pflug eine Leidenschaft hat: alte Biologiebücher. Er sammelt sie und hält auch Ausschau nach  weiteren Exemplaren. 

Seit vielen Jahren inspiriert und begeistert ihn  die Ästhetik der Abbildungen  –  vegetativ, amöbenhaft, schwebende Zellstrukturen.  und dass diese Abbildungen, die abgebildeten Formen, in der Wirklichkeit gar nicht in der abgebildeten Form vorkommen!

 

Bernd Müller-Pflug spielt mit der Vielfalt an Gestaltungsmöglichkeiten, nutzt sie.    

Was erleben wir, wenn wir einem Bild begegnen?

 

Es ist ein Spiel von Distanz und Nähe, von Sichtweisen und Perspektiven, von Offenheit 

 

und Verschleierung, Sehen ist fließend. Das Bild ist der Ruhepunkt.

Siri Hustvedt bezieht sich in ihrem Vortrag „Mit dem Körper sehen“ auf Jaques Lacan.

Lacan beschreibt das Spiegelstadium des Menschen als Blickspiegelungen zwischen Mutter und Kind – wir finden uns zuerst in den Augen unserer Mutter.

Auch  die  Erfahrung des Betrachtens von Werken der bildenden Kunst beinhaltet eine Art Spiegelung, die bewusst sein kann, aber nicht bewusst sein muss. Etwas ähnelt uns. Wir spüren den Effekt eine Farbe noch ehe wir in der Lage sind die Farbe zu benennen. Noch vor der Identifizierung eines Objektes reagieren wir  auf seine wahrgenommene Bedeutung. Wir nehmen mit all unseren Sinnen wahr, auf allen Erfahrungsebenen.

 

Unsere leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles körperlich auffassen. (Heinrich Wölflin)

Die wahrgenommene Welt wird  in der Erinnerung Teil unserer selbst, gleichzeitig befinden wir uns aber auch mitten in ihr. Das Wahrgenommene wird zum Wissen des Körpers. Wir kennen den Begriff „Körpergedächtnis“.

 

Kunst stellt immer eine Beziehung her zwischen Betrachter und Künstler, zwischen Betrachter und Werk.

In der Kunst haben wir eine Möglichkeitsraum der Begegnung. Für Künstler, Werk  und Betrachter.

 

Zitat aus dem Vortrag von Siri Hustvedt – Mit dem Körper sehen

………wenn wir ein Kunstwerk lieben, vollzieht sich immer eine Art Erkennen. Das Objekt spiegelt uns, aber nicht wie ein Spiegel uns unser Gesicht und unseren Körper zurückwirft. Es spiegelt die Wahrnehmung des Anderen, des Künstlers, die wir uns zueigen gemacht haben, weil es etwas in uns anklingen lässt, das wir für wahr halten. Diese Wahrheit mag bloß ein Gefühl sein, nichts als ein summender Nachklang, den wir nicht in Worte fassen können, oder sie mag sich zu einer gewaltigen diskursiven Auseinandersetzung entwickeln, sie muss aber da sein, damit die Verzauberung statt-findet  –  dieser Ausflug ins Du, das auch ein Ich ist.

 

Was geschieht zwischen den Farben, zwischen den Flächen, zwischen den unterschiedlichen Arbeiten?

Und was geschieht zwischen Betrachter und Werk?

Wenn die Bilder sich in uns zurückverwandeln zu Erfahrung?

Auf was treffen sie in uns?

 

Ich möchte Sie/Euch  herzlich einladen, mit diesen Fragen in der Betrachtung der Bilder  und im Gespräch mit Bernd Müller-Pflug  zu verweilen…………..

 

 

Ute Seifert, 4.10.2015

Akkordeon Inhalt

_deux jà-vu. 

Dr. Reiner Beßling  am 01.02.2015 zur der Eröffnung der Ausstellung _deux jà-vu in Worpswede 

Mit einem Wortspiel betiteln Christina Völker und Bernd Müller-Pflug ihre Ausstellung. Zwei sind zu sehen, die auf den ersten Blick recht unterschiedliche künstlerische Positionen besetzen. Kreist ein Großteil der hier gezeigten Malerei der Ottersberger Künstlerin um archetypische,  verrätselte Figurationen, beschäftigt sich der Bremer Maler mit konstruktiven Architekturen und mit Bauformen, die wie von der Natur erschaffen wirken. Vielleicht sind es gerade die motivischen Unterschiede, die beide farbstarke Bildsprachen hier so anregend miteinander korrespondieren lassen.

_deux jà-vu. . Das schließt an schon Gesehenes an, umkreist jenen Moment, in dem etwas bereits Besichtigtes erneut und überraschend vor das Auge tritt und dabei Erinnerung aktiviert. Beide Künstler greifen in ihren Werken auf Motive zurück, die gesehen sein könnten und doch ein magisches Rätsel bewahren. Sie tragen das Motiv weiter, indem sie es in eine Bildwelt nach eigenen künstlerischen Gesetzmäßigkeiten transformieren. Christina Völker schließt dabei besonders an Bewegungen und Haltungen von Menschen an. Bernd Müller-Pflug befasst sich mit der Lage und der Anlagerung von Räumen. Bei beiden bleiben die Orte letztlich unbestimmt. Interessant dass sich der Maler von der Figuration zu Räumen ohne Personal entwickelt hat, während die Malerin den umgekehrten Weg geht. 

Trotz grundsätzlicher Unterschiede gibt es einen gemeinsamen Nenner, der beide Werke verklammert. Beide untersuchen Räume, in denen sich Menschen bewegen beziehungsweise die Menschen gegenüberstehen. Raum ist allgegenwärtig. Raum, das scheint auf den ersten Blick und im ersten Gedanken eine feste Größe zu sein. Boden, Wände, Decke, wenn es um Gebäude geht, Wege, Straßen, Ebenen und Anhöhen, Horizont und landschaftsgliedernde Elemente, wenn es den Außenraum betrifft. Räume lassen sich öffnen, Räume schirmen ab, Raum behütet und kann Unbehagen erzeugen. Räume bergen Gedanken und Identitäten. Stets strahlt Raum eine Atmosphäre ab, die auf unser Befinden und Selbstverständnis einwirkt. 

Beide Künstler bilden Räume unserer Erfahrungswelt und der sichtbaren Realität nicht ab, sondern erschaffen Bildräume mit eigener Wirklichkeit. Räume sind nämlich keine fixen Größen, sondern abhängig von unserem Blick und unserer Sehweise. View hat Bernd Müller-Pflug eine Werkgruppe betitelt und damit ein Wort gewählt, das ein breites Bedeutungsspektrum ausfüllt. Ansicht, Anblick, Anschauung, Sichtweise und Auffassung spielen hier zusammen und betonen die aktive Beteiligung des Betrachters. 

Schauen wir uns das Werk raum II/7 Müller-Pflugs näher an.   

Der Blick fällt zuerst auf den unteren Bildbezirk. Das Auge bewegt sich auf heller Fläche hinein in einen dunklen Bildhintergrund, vorbei an Wänden, die auf einen fernen Fluchtpunkt zustreben. Wandert das Auge weiter höher, ändert sich die Situation. Plötzlich scheint es so, als blicke man in eine gähnende Tiefe. Aus schmalen Modulen gefügte Wände stürzen herab. Ein magnetischer Sog zieht den Betrachter in einen Bildraum, der aus mehreren Perspektiven entworfen ist. Ansicht und Aufsicht verschränken sich. Mehrere Fluchtpunkte halten den Blick in dieser dynamischen Architektur in Bewegung. Mal scheinen es Fassaden zu sein, mal hohe Flure. Außen und Innen changieren kaleidoskopartig. Zur Ruhe kommt das Auge nicht, immer wieder kreuzen neue Linien die Haltepunkte, immer wieder fügen sich die rasterartigen Strukturen des Gebäudes neu zusammen, tauschen die Rollen. 

Seine gläsern erscheinenden Architekturen schafft Müller-Pflug in der Hinterglasmalerei. Anders als auf der Leinwand bleibt hinter Glas die zuerst aufgebrachte Malschicht auch auf der vordersten Fläche als erste sichtbar, den Hintergrund bildet die letzte Schicht. Doch nicht nur hier liegen Unterschiede. Bei der Hinterglasmalerei erscheinen die aufgebrachten Schichten spiegelverkehrt. Das Medium stellt den Maler so vor Überraschungen und wechselnde Herausforderungen. Das Verfahren ist eine Strategie gegen die Gewöhnung. Jeder Künstler bildet im Laufe der Zeit eine bestimmte kompositorische Auffassung heraus, die sich im Werkprozess manifestiert. Eine solche Verfestigung kann Fortschritt und Innovation bremsen. Müller-Pflug unterläuft die eingefahrenen Gewohnheiten, stellt sich Irritationen und beschwört Reflexe herauf, die im Wechselspiel des Kalkulierbaren und Unkalkulierbaren, des Steuerbaren und nicht Steuerbaren zu neuen Wegen und Antworten animieren. Der Werkprozess löst sich in seinem Schaffen nicht selten von der Ursprungsidee. Solch vielgliedrig und vielschichtig in- und miteinander verschränkte Gebilde ließen sich auch wohl kaum entwerfen.

Versuchen wir bei einem weiteren Beispiel mit dem Titel „view“ die Bildgenese zu verfolgen. Am Anfang türmen sich flächige Schichtungen, dann kommen Vergitterungen hinzu, schließlich durchzieht ein Band die Komposition, mal vorne mal hinten verlaufend. Manche Flächen scheinen im Nachhinein herausgelöst zu sein. Raster sind in verschiedene Richtungen und in unterschiedlichen Rhythmen angeordnet. Linien und Flächen liegen auf verschiedenen Bildebenen gleichzeitig und führen geradewegs in die Orientierungslosigkeit. 

Andernorts brechen sie urplötzlich ab, und unter der futuristisch oder utopisch anmutenden Architektur öffnen sich wie unter auskragenden Baumodulen Leere und Tiefe. Subtil ist die Komposition mit Hell-Dunkel-Kontrasten gegliedert.   

In einem weiteren raum-Beispiel scheinen in einer luziden Farbarchitektur mehrere Räume wie in einer Panorama-Ansicht nebeneinander gestellt. Blicke in Innenräume sind dabei durch Fassadenfragmente unterbrochen und gegliedert. Ein in bloßer Konturzeichnung erfasster Baukörper ist mit stangenartigen Linien versehen und liegt auf verschiedenen rechteckigen Flächen, die einer Farbfeldmalerei gleichkommen. Abgetrennt durch einen breiten dunklen Balken, durch den eine Fensterfront schimmert, tauchen in der Mitte Formationen wie Gerüste oder Etagengerippe auf. Im linken Bildbezirk verunsichern in sich verschränkte und perspektivisch unterschiedlich ausgerichtete Fenster, Türen und Dachsituationen den Blick.  

Müller-Pflug ist weder Konstrukteur noch Architekt, sondern Maler, sein Mittel ist die Farbe, die sowohl als Materie als auch in ihrer autonomen Farbwertigkeit zum Einsatz kommt. Mit ihr sind Linien gesetzt wie auch Flächen ausformuliert. So wie die an Hausfassaden erinnernden, diese niemals abbildenden Raster und Gitterstrukturen immer wieder von freien Linien und Flächen unterbrochen oder weitergeführt werden, bilden auch die zumeist lasierend aufgetragenen Farben keine sorgfältig begrenzten und plan ausgefüllten Flächen aus. Vielmehr liegen die utopischen Architekturen des Malers in einem wolkigen, schleierartigen Kolorit. Neben die Gitter legen sich bisweilen Farbverlaufsspuren, die die Geometrie brechen. Manche dünn durchscheinende Fläche mutet mit ihren unregelmäßigen Begrenzungen wie eine atmende Membran an. Müller-Pflug hält in seinen architekturähnlichen Gebilden die Farbigkeit in einer wohl ausbalancierten Klanglichkeit, die durch wenige perfekt gesetzte Kontraste belebt wird.

Neben Arbeiten aus den Werkgruppen raum und view hat Müller-Pflug in diese Ausstellung auch Beispiele aus der Reihe vineta mitgebracht, in der  organisch anmutende Formationen einen schwebenden Raum mit ihrer häufig prallen Körperlichkeit besetzen. Die sinnlich erscheinenden Figurationen könnten an Früchte und Pflanzen, vielleicht an Schwämme, Seeigel oder Korallen erinnern. Der Raum ist hier durch die Überlagerung fächerartiger, schlingernder, in sich verschlungener oder einem Strahlenkranz ähnlicher Rundformen gestaffelt. Vermutlich vor allem aufgrund des schwebenden Charakters der Räume fühlen sich viele Betrachter an eine exotische Unterwasserwelt erinnert. 

Gerade in diesen schwer erreichbaren, nur durch magische Fotos vermittelten Meerestiefen nehmen Fauna und Flora ja äußerlich merkwürdige Zwischengestalten an. 

Müller-Pflug lässt diese halb pflanzlich, halb tierisch anmutenden Formen in freie Farbflächen ein, die eine teils ähnlich bauchige, atmende Körperlichkeit besitzen oder in strenger Geometrie einen Kontrast setzen. In manchen Formen, die wie Quallen erscheinen, eröffnet die dem Aquarell verwandte Malweise einen Blick in das Innenleben. Dabei fördern überlagernde rechtwinklige Farbfelder die Intensität der farbstarken Gebilde. In dieser Werkgruppe arbeitet der Maler sowohl hinter als auch auf Glas. Nicht zuletzt mit den Störelementen der wolkigen Gebilde in den Architekturen und den strengen tektonischen Setzungen in den organischen Formen gelingt es dem Künstler, die kühle, glatte Ästhetik der Hinterglasmalerei zu brechen. Er nimmt in seiner Kunst das intensiv leuchtende Kolorit dieses Mediums mit und pflanzt ihm durch den malerisch-stofflichen Auftrag den Puls eines Farbkörpers mit ein. 

Leuchtende Farbkraft strahlen auch die Arbeiten Christina Völkers aus. Die Szene eines ihrer Großformate ist der Künstlerin in einem Zeitungsfoto aufgefallen. Ein Polizist winkt ein Auto aus dem Verkehr. Ein Alltagsfund, eine klassische Geste der Ordnungsmacht. Die Perspektive aus dem Rücken und in Augenhöhe des Polizisten holt das Geschehen nah heran. „Zwischenstopp“ heißt die Arbeit. Die Malerei, die wir nun großformatig vor uns sehen, hat sich von dem Medienbild weit entfernt. Die Person und die Fahrzeuge sind plakativ gefasst, die Perspektiven verschoben, neue Fluchtpunkte und weitere Fahrstrecken sind hinzugekommen. Die Fahrbahn mit Dreibein und Begrenzungspfahl plus Katzenauge wirkt wie eine Abzweigung, wie eine Episode, die mit der Polizistengeste thematisch korrespondiert. Zahlreiche malerische und einige druckgrafische Elemente sind mit ins Bild genommen: Eine schwere schwarze Bitumenfläche mit fadenhaften Verzweigungen steigert die Leuchtkraft des benachbarten Blautons, rote Balken geben dem Ganzen ein kompositorisches Gerüst. 

Ein anderes Bild zeigt einen jüngeren Mann. Er hält einen nicht näher bestimmbaren Gegenstand in seinen Händen. Historisch Interessierten wird die Pose vielleicht bekannt vorkommen. Die weit verbreitete Fotografie, die dem Bild zugrunde liegt, zeigt Marinus van der Lubbe, den vermeintlichen Reichstagsbrandstifter. Die Nationalsozialisten haben den holländischen Gelegenheitsarbeiter in einem unrechtmäßigen Prozess zum Tode verurteilt. Christina Völker greift die Aura der Fotografie malerisch auf. Ihr Bild besitzt eine historische Patina. 

Es ist, als sei hier eine Art Denkmal errichtet, ein mahnendes Erinnerungsbild im Gedenken zum einen an eine konkrete Person, die zum Sündenbock gemacht worden ist und der man angesichts der erkennbaren eher verschämten und verzagten Geste die ihm zur Last gelegte Tat gar nicht zutraut.  Zum anderen lässt das nicht ausgeführte Gesicht Raum, all jene hinein zu denken, die unter dem Hitler-Faschismus ein ähnliches Schicksal erlitten haben.

Politische Assoziationen weckt die Darstellung zweier Männer. Der eine, im Hintergrund, scheint uniformiert zu sein. Der andere trägt eine Frisur, die an den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un denken lässt. Dieser hat, aufgestützt auf einer Art Mauer, ein Fernglas in der Hand. Die Pose lässt sich vielfach deuten. Wird hier ausgespäht oder der Blick erweitert? Schaut der asiatische Tyrann in den Westen und registriert schadenfroh Machenschaften, wie sie im CIA-Prozess zu Tage gefördert werden?

Christina Völker hat einige Bilder hier nach Worpswede mitgebracht, die unter dem Reihennamen „Spielkind“ firmieren. Nehmen wir als Beispiel ein auf einem langen Rohr oder Stamm balancierendes Mädchen. Eine Szene mit Magie. Auch hier sind gegenständliche Elemente in eine abstrakte Bildwelt gesetzt, die ihren kompositorischen Eigenwert besitzt und zugleich mit den Figurationen verwoben ist. So scheint die Balancierstange auf Brückenpfeilern zu liegen, die vom Verlauf des Bitumens markiert werden. 

Christina Völkers Kunst kreist um das große Thema Erinnerung. Aus gefundenen Alben, eigenen Fotografien oder Medienbildern destilliert die Künstlerin die prägenden Umrisse der Kinder. Nicht um die Identität von Individuen geht es ihr, sondern um den Typus eines Auftretens, um das Universelle einer Gestalt. Charakteristische Gesten hebt die Künstlerin heraus, Gesten, die Erstaunen oder Freude, Zuwendung oder Abgrenzung signalisieren. Niemals sind Gesichtszüge erkennbar, die Leerstellen dienen als Projektionsflächen, auf die der Betrachter eigene Kindheitserinnerungen und seine Lesart der Haltungen werfen kann. 

Das Wechselspiel von Figur und Hintergrund ist solchen Bildern spannungsvoll eingeschrieben als Korrespondenz zwischen gegenständlichen und abstrakten Bildanteilen. Dies ist ein weiteres zentrales Thema in Christina Völkers Schaffen: Figuration und Abstraktion bestimmen nicht nur verschiedene Werkgruppen, sondern durchdringen sich wechselseitig auch in einzelnen Bildern. 

Aus abstrakten Bildanlagen heraus entscheidet sich, ob eine Komposition ungegenständlich bleibt oder ob eine Figuration Einzug hält. Die Künstlerin richtet auch in den gegenständlichen Bildern ihre ganze Aufmerksamkeit auf die malerischen Zonen, arbeitet also abstrakte Felder und Details sorgfältig und ausdrucksstark durch. 

Die Kinderbilder bilden eine Brücke zu den Darstellungen von Rehkitzen. Arbeitet die Künstlerin bei den Kindern eine natürliche und spontane, nicht auf Erwachsenenerwartungen abgestimmte Gestik heraus, schildert sie bei den jungen Wildtieren eine Mischung aus Zartheit, Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit auf der einen sowie Unbezähmbarkeit und Ursprünglichkeit auf der anderen Seite. Eine mächtige Präsenz gewinnen in manchen Bildern Hirsche. Zugleich sind diese eng verwoben mit ihrer Lebenswelt. Einen gestisch aufgefassten urtümlichen Wald lässt die Künstlerin in und hinter den Konturen der Tiere als schimmernde und flirrende Farbflächen durchscheinen. Schönheit und Gefahr, Idylle und Desaster liegen in den Bildern eng beieinander und wecken trotz unbändigen Kolorits eine diffuse Beklommenheit. In einer Serie von Dreibeinen verbergen sich hinter der trügerischen Ruhe Tragödien, Hinweise auf die Kollateralschäden unserer mobilen Gesellschaft.

Auch in den abstrakten Arbeiten bilden oftmals gesehene gegenständliche Momente den Ausgangsimpuls. Häufig sind es organische Strukturen, denen die Künstlerin in der Natur begegnet. Blattformen, Pilzorganisationen, Geäst und Baumarchitekturen ziehen abstrahiert in die spontan entworfenen und immer wieder überarbeiteten Bildwelten eine. Nicht selten wirken die Lineaturen wie Ausschnitte aus Mikrokosmen. Im Arbeitsprozess gewinnt das Werk seine Eigendynamik.

Meist arbeitet Christina Völker in Serien, dekliniert bestimmte Grundformen wie Kreise, ovale Zellkörper und blockhafte Gebilde durch. Eine Konstante in ihren Bildern ist die mehrfache Schichtung. Manche Figuren liegen in zahlreichen Ebenen und Varianten unter der finalen Malfläche. Auch die Farbigkeit ändert sich beim langen Werkprozess immer wieder. Grundliegendes Kolorit scheint am Ende häufig nur noch an wenigen Stellen leise durch und sorgt für Bildtiefe. Auch in der Stofflichkeit zeigen sich viele Varianten. Neben dem Acryl kommen Schellack, Beize, Tusche oder Bitumen nicht nur als Schlussauftrag zur Anwendung, sondern auch in Zwischenstufen. Die dadurch entstehenden Abperleffekte, Glanzgebungen und Risse rufen eine bewegte Binnenstruktur der Farbflächen hervor. 

Während die Beize beispielsweise für subtile malerische Ereignisses sorgt, laden die Bitumen-Lineaturen die Bilder wuchtig mit dramatischer Energie auf. Zudem hebt das tiefe Braun der mal lasierenden, mal sirupartigen Bitumen-Masse die umliegenden Farben auf eine prächtig ausgeleuchtete Bühne. 

In einer Serie von drei Quadraten etwa markieren angeschnittene Kreise und Halbrunde die kompositorische Basisarchitektur. Gewicht und Gegengewichte in der Linienführung wie auch in der Farbigkeit sind spannungsreich austariert. Ein großflächiger heller Blau-Bezirk bildet in einem Blatt einen starken Gegenpol zum Bitumendunkel und öffnet das Bild in die Tiefe und Weite. Bei allen drei Arbeiten mischen Anteile von Druckgrafik die Schlussschicht auf. Schließlich sorgen schlängelnde grafische Kürzel für filigrane Gewebe als Kontrast zu blockhaften Gebilden, die zwischen Organismus und Konstruktion changieren.

Damit wären wir wieder bei zwei Begriffen, die auf beide Künstler dieser Ausstellung anzuwenden sind. Konstruktive und organische Anmutungen treffen sich in den Werken, die eigene autonome Bildräume formulieren und doch Assoziationen an reale Räume wecken. Wiederentdeckungen und neue Sichten vermittelt uns diese kontrast- und anregungsreiche Ausstellung. _deux jà-vu. .

Bärbel Johanna Schönbohm – Bernd Müller-Pflug im Kunstpavillon/Aurich

Meine Damen und Herren, auch ich möchte Sie ganz herzlich heute Morgen zur Ausstellung von Bernd Müller-Pflug begrüßen. Flow lautet der Titel der Ausstellung. Flow – das bedeutet fließen, strömen, in Bewegung sein. Im weitesten Sinne hat der Titel auch, so Bernd Müller-Pflug selbst, mit Reisen zu tun. Jede Ortsveränderung bringt auch eine Standpunktveränderung mit sich. Ich komme, nachdem ich eine Reise unternommen habe, verändert zurück. Mein Blick ist ein anderer. Reisen ist im doppelten Sinne zu verstehen. Es geht auch um ein Aus-sich-heraustreten, um den Vorgang des Entpuppens, um das von einem Zustand in den anderen gehen… In seinen großformatigen Acrylarbeiten beschäftigt sich Bernd Müller-Pflug mit eben diesem Thema. Der Künstler arbeitet hier figurativ, doch der Grad der Abstraktion ist besonders hoch. Wir können Menschen erkennen. Mal treten sie allein auf, dann wieder paarweise oder auch in Gruppen. Müller-Pflug deutet mehr an, als dass er ausformuliert. Er hält die Figuren nicht fest, sondern lässt sie im Bildraum in Bewegung. Nur selten wirken sie statisch, unbewegt.

Sie überlagern sich, verschmelzen miteinander, sie trennen sich, sie treten aus sich heraus, werden zu etwas Neuem, lassen Altes hinter sich. Dynamisch stellt Bernd Müller-Pflug die Transformationsprozesse, das Fließen und Strömen, die Zustandsveränderungen dar.

 

Die Figuren haben sich dabei der Malerei, dem gestischen Akt des Malens unterzuordnen. Malen bedeutet für den Künstler, eine spezifische Form zu denken. Malen veranlasst mich dazu, so Müller-Pflug selbst, den Standpunkt zu verändern, Vertrautes aus einem anderen Blickwinkel wahrzunehmen. Jedes Bild ist eine Reise. Da wären wir wieder beim Thema: Flow = im weitesten Sinne Reisen. Wie sieht denn nun eine solche Reise bei Bernd Müller-Pflug konkret aus? Wie müssen wir uns seine Arbeitsweise vorstellen? Am Anfang eines jeden Bildes gibt es eine Idee, die dann jedoch mit dem, was am Ende die Komposition ausmacht, nichts mehr zu tun haben muss. Malen gestaltet sich bei ihm als ein Dialog mit der Leinwand. Wichtig ist für den Künstler, immer wieder das aufzugeben, was er anfangs im Kopf hatte – das Nichtgelingen zu akzeptieren. Entscheidend ist, das Scheitern während des Malprozesses als etwas Positives zu betrachten. Flexibilität ist gefragt. Wenn Dinge, die man sich ausgedacht hat, nicht funktionieren, so konstatiert er mir gegenüber in unserem Gespräch, kommt etwas Neues – ich möchte unterwegs sein. Bernd Müller-Pflug betrachtet Malerei als ein Experimentierfeld. Schablonen, Stempel, sogar Musterrollen, wie sie Maler beim Anstrich verwenden, kommen bei ihm zum Einsatz. Schnell wird deutlich, dass Strukturen in seinem Werk eine wichtige Rolle spielen. So wird der Abdruck einer Luftpolsterfolie zu einer eingesprengten Bildsequenz. Partien im Bildraum wirken wie hineincollagiert. Die emotionale gestische Malerei wird durch strenge rhythmische Aspekte gebrochen. Bernd Müller-Pflug schafft so Reibungsmomente, an denen unser Auge bei seiner Reise durch das Bild verharrt. Ihm gelingt es, durch das Wechselspiel Spannung innerhalb der Gesamtkomposition aufzubauen. Müller-Pflug greift für seine großformatigen Acrylarbeiten zumeist zu gebrochenen Farbtöne mit einem hohen Weißanteil, obwohl auch ein leuchtendes Rot, ein Orange oder auch ein Pink zu seiner Farbpalette zählen.

In unserem Gespräch gestand mir Bernd Müller-Pflug, der übrigens seit 1983 als Dozent an der Fachhochschule Ottersberg arbeitet und seit 1996 dort eine Professur innehat, dass in seiner Brust, was die Malerei angeht, mindestens zwei Herzen schlagen.

 

Die Ausstellung führt eindruckvoll die zwei ganz unterschiedlichen Bildsprachen Bernd Müller-Pflugs vor Augen. Ihm ist es wichtig, die Möglichkeiten der Gestaltungsformen voll auszuschöpfen. Es gibt Dinge, so der Künstler selbst, die kann ich in dem einen Bereich besser zum Ausdruck bringen als in dem anderen.
Flow, das bedeutet in Bewegung sein: Auch Bernd Müller-Pflug ist in Bewegung, auch er gleitet von einer Sprache in die andere. Die Sprache, die uns nun im Folgenden interessiert, ist die Hinterglasmalerei. Die Farben werden bei dieser Technik auf die Rückseite einer Glastafel aufgetragen. Anders als beim Glasgemälde wirkt die Malerei nur im auffallenden, nicht im durchscheinenden Licht. Sie wird also durch die Glasscheibe hindurch gesehen. Der Künstler ist demnach gezwungen, spiegelverkehrt zu arbeiten.

Die Anfänge der Hinterglasmalerei lassen sich bin in die späthellenistische Zeit zurückverfolgen. Die ältesten erhaltenen Hinterglasbilder des Mittelalters stammen aus dem 14. Jahrhundert. Ihre große Zeit erlebte die Hinterglasmalerei dann im 15., 16. und 17. Jahrhundert in Deutschland, Italien, Spanien und den Niederlanden. Im 18. Jahrhundert ebbte dann das Interesse an dieser Technik ab. Erst durch die Volkskunst fand seit Mitte des 19. Jahrhunderts in vielen Ländern Mittel-, Süd-, und Osteuropas eine Wiederbelebung statt. Dabei handelte es sich zumeist um eine ausgeprägte bäuerlich-handwerkliche Kultur, in der nahezu ausschließlich religiöse Motive Verwendung fanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten dann die Künstler der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiters die volkstümlichen Hinterglasbilder und ließen sich von ihnen anregen. Sie begannen selbst in dieser Technik zu arbeiten und malten zunächst nach den historischen Vorbildern, bald jedoch auch nach ganz eigenen, freien Entwürfen.

Kommen wir zurück zu Bernd Müller-Pflug. Er entwickelt eine ganz neue, eine moderne Form der Hinterglasmalerei, die sich einer rein abstrakten Formsprache verschrieben hat. Anklänge an Gegenständlichkeit sind hier nicht mehr vorhanden. Was ist jedoch, wenn wir vor seine Werke treten, um sie eingehend zu betrachten? Durch den Spiegeleffekt schiebt sich eine Figur ins Bild: Wir selbst werden zu einem Teil, zu einem figurativen Aspekt der abstrakten Bildkomposition. Bernd Müller-Pflug verzichtet normalerweise darauf, seinen Werken Titel zu geben. Eine Ausnahme stellt das Bild Damaskus dar. Zu diesem wurde er durch eine Reise in den Orient inspiriert. Es geht also wieder einmal um das Reisen. Bei meinem Atelierbesuch zeigte er mir Fotos, die auf den Märkten dort entstanden sind: Bilder von Stoffballen und orientalischen Pantoffeln. Eine Welt aus leuchtenden Farben, die nahezu zu explodieren scheinen. Farbe dicht an dicht.
Schon Paul Klee war, als er 1914 gemeinsam mit August Macke und dem Schweizer Louis Moilliet nach Tunis reiste, begeistert von der Farbwelt, die sich ihm unter dem Licht der afrikanischen Sonne bot. Er empfand diese Reise als einen Durchbruch in seiner Malerei. In sein Tagebuch notierte er: Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen. Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichsten Stunde Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler. Diese Reise ist immer wieder beschrieben und als Sternstunde der Menschheit bezeichnet worden. Klee arbeitete in seinen Aquarellen sehr kleinteilig mit zarten Farbübergängen und legte die einzelnen Farben übereinander. Durch wenige gegenstandsbezogene Zusätze werden aus einem Netz rein geometrischer Formen Landschaftsbilder. Wieder zu Haus in München griff er auf die afrikanische Motivwelt zurück und führte das Gesehene in die Abstraktion. Die bunten Impressionen der orientalischen Märkte regten auch Bernd Müller-Pflug zu farbintensiven abstrakten Werken an, die einer strengen Tektonik gehorchen. Als eine Art Einsprengsel fügt er malerische Sequenzen hinzu, die den strengen Bildaufbau durchbrechen. Die Farbe scheint auszubrechen, sich ihren eigenen Weg zu suchen. Die Vorgehensweise ist konträr zu den figurativen Arbeiten. Dort irritierten tektonische Elemente den freien malerischen Gestus, hier werden der strengen Tektonik malerische Einheiten entgegengesetzt. Leerer Raum trifft auf gefüllten Raum. Bernd Müller-Pflug kennt nicht den Horror vacui, die Scheu vor der Leere, die den Künstler dazu drängt, die Bildfläche vollkommen mit Figuren, Gegenständen oder Formen zu füllen. Auch hier gelingt es ihm, Spannung im Bild aufzubauen. Eigenartige Räume entstehen. Bernd Müller-Pflug interessiert das Verwirrspiel mit dem Betrachter. Unmöglich ist es, den Bildraum logisch zu ordnen. Mal scheint die eine Farbfläche oben, dann wieder unten zu liegen. Alles scheint im Fluss, sich von einem Zustand in den anderen zu bewegen. Da wären wir wieder beim Titel: Flow – strömen, fließen, sich in Bewegung setzen, im weitesten Sinne auch Reisen.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen nun eine spannende, eine anregende Reise durch die Bildwelten von Bernd Müller-Pflug.

Ute Seifert – Bernd Müller-Pflug Galerie 149 Bremerhaven


Text der Einführung ©Jutta de Vries


 

Die Mutter aller Ufer, meine sehr geehrten Herren und Damen, die Mutter aller Ufer ist eine Insel. Zum Beispiel Zypern, drittgrößte Mittelmeerinsel und ganz im Osten gelegen, bietet die unterschiedlichsten Ufersituationen.

Im Süden, dort, wo einst die Mykener vor 3000 Jahren landeten, feiert die Archäologie Triumphe, Aphrodite stieg hier schaumgeboren aus dem Meer, Apollo und Dionysos nahmen hier Wohnsitz bei Theseus, und die Sage von Orpheus ist omnipräsent; hier leben die Menschen wie selbstverständlich mit dem Gestern, der früheren altgriechischen Sprache, die aus Inschriften zu ihnen spricht und ihrer heutigen neugriechischen, zu denen sich aks quasi „Gestriges Heute“ oder „Heutiges Gestern“ die englische Sprachegesellt, die aus der mehr als 100jährigen Protektoratszeit durch die britische Krone bis heute erhalten hat und auch unverzichtbar ist als Brücke der Verständigung mit den vielen Urlaubsgästen aus aller Welt, die an Zyperns Ufer kommen. Hier hat das ungeliebte „Gestern“ ein „übersetzen“ und „über setzen“ ins Heute leichter gemacht.über setzen kann man von der Südküste schnell in den Nahen Osten, in die aktuellen Brandherde der Weltgeschichte – auf ein übersetzen der dortigen Probleme in eine Sprache des Friedens werden wir wohl noch lange warten müssen.

Problematisch ist die Lage am Ostufer. Von Protaras nach Famagusta ist kein Schiff mehr unterwegs, ein übersetzen seit der völkerrechtsverletzenden Invasion durch die Türke seit 1974 unmöglich. DIe fatale Teilungs-Situation lässt an eine Qualität von Gewalt- oder Interessenssprach denken, für die jede humane übersetzungsmöglichkeit zum Wohl aller Bewohner fehlt.

Nach Norden kann man schnell und zügig über setzen, vom besetzten Teil der Insel in die nur 90 Bootsminuten entfernte Türkei. Viele Zyprioten wollen aber nicht über setzen, weil sie ihre genuine zypriotische Heimatsprache nicht in die Sprache der Gewalt übersetzen wollen. Sie brauchen auch gar nicht über zu setzen, sie erleben täglich die Sprache der Gewalt in ihrem besetzten Lebensalltag. Sie sehen kein hoffnungsfrohes Ufer für die Zukunft, kein Pons, kein Langenscheidt existieren als internationale übersetzungshilfen. Auch kleinste „Papierschiffchen“ angebotener Verständigung wie das Einreißen einer Straßenmauer in Nikosia vom griechisch-zypriotischen Teil aus sind bereits gesunken- an dieser Stelle habe ich vorgestern gestanden und die Sand- und Kieshaufen, die Steine gesehen, die schon zum Neuaufbau bereit lagen. Das bittere Zitat von Peter Handtke, das Ute Seifert in ihrer Arbeit zitiert, bestätigt sich hier: „…Morgen wird wieder gestern sein und gestern ist morgen…“

Was hat das nun alles mit dieser Ausstellung zu tun?

Als ich mich in der letzten Woche auf Zypern mit der Vorbereitung auf diese Ausstellung befasste, fand ich, dass es dieser Insel wie auf den Leib geschrieben schien. Es sensibilisiert für alles, was ihr in historischen Verläufen widerfahren ist – vom griechischen Mäandermuster, der ja gestern, heute und morgen und den umgekehrten Weg darstellt und somit die ewigen Kreisläufe symbolisiert, über die harte Realität der gewaltsamen Teilung des Landes bis zur Beobachtung der regen Hafentätigkeit in Limassol, von dessen Ufer die zahllosen Frachter unter Zyperns zollgünstiger Flagge übers Meer setzen und schließlich am Bremerhavener Ufer ihre Ladung löschen.

Und da sind wir angelangt am Weserufer und in der Galerie 149 und in dieser Ausstellung.
„Aufbruch, Unterwegs sein, Ankunft“ ist das Thema, das sich zunächst in einer Stadt am Ufer, an einer Flussmündung ins Meer, ganz real fassen lässt und positive, hoffnungsfrohe Bedeutung haben kann im Sinn von „zu neuen Ufern aufbrechen, etwas Neues lernen, neue Menschen kennen lernen, den Horizont erweitern, sich bereichern“ als auch die Bedeutung von Schmerz und Trauer des Abschiednehmens, von Verlust und Einsamkeit, wie es im Auswanderermuseum hier gleich um die Ecke so eindrücklich dargestellt wird.

Im übertragenen Sinn meinen die Künstler Ute Seifert und Bernd Müller-Pflug in ihrer gemeinsamen Ausstellung auch die Brücke des Dialogs zwischen ihren beiden ganz unterschiedlichen Künstlerpositionen. Durch die vereinbarte interaktive Arbeitsform tauschen sie sich aus, korrespondieren miteinander und nähern sich gemeinsamen Inhalten von den beiden Polen ihrer individuellen künstlerischen Auffassung, Technik und Farbvorstellung. Im Dialog entsteht die Möglichkeit von Reflektion und Reaktion, von Hin und Her, von Ufer zu Ufer im Durchmessen des Kunst-Raums. Alles bleibt im und am Fluss, „Pantha Rhei“, wie die Philosophie der alten Pythagoräer uns seit Jahrtausenden erklärt. Austausch ist daher die vereinbarte Arbeitsform, und das Ergebnis dieses frischen Prozesses können wir hier nun betrachten.

Die paarweise Hängung der Exponate lassen uns den Arbeitsprozess nachvollziehen. Beim Betrachten spüren wir die Spannung, die sich durch die Differenzen schon der Formen, Farben und Sparten aufbaut.

Ganz reduziert und immer sparsamer mit Farbe arbeitet Ute Seifert zwischen Transparenz und der Weiß-Palette. Raumsituationen werden kaum sichtbar verunklärt, Zwischen-Räume bieten im Verein mit den Mauer- und Wandvorsprüngen der Galerie eine Schattenlandschaft von Ufermöglichkeiten; und in der Installation „Schiffdorf“ gibt es die winzige gläserne Barke, die von Ufer zu Ufer über einen zwar schmalen aber unergründlich tiefen Spalt das Gestern mit dem Morgen verbinden könnte – das Prinzip Hoffnung. Der Stapel mit den Leerseiten des Möglichen wartet auf die Chance. Nicht hier, aber am Block quadratischer Acrylglasplatten können Besucher ihre Chance wahrnehmen: Ute Seiferts interaktives Gästebuch verbindet das Gestem mit dem Morgen – alles was heute auf die transparenten Platten geschrieben wird, verbindet sich mit dem gestern zu grafischem Ausdruck und wird auch morgen noch sichtbar sein. Eine weitere Variation des Themas ist die Spiegelung, die Handlungs-Spur, die in der Rückschau des Morgen ganz anders wirkt und sich auswirkt, als sie im Gestern gemeint war. So werden wir gemahnt, unsere Handlungen genau und verantwortungsvoll zu reflektieren. So wird ein hoher philosophischer Anspruch hier im Wortsinn transparent.

Erinnerungsvermögen, Zukunftsvisionen, Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit feiern hier Triumphe, und der größte Triumph ist, dass Gestern und Morgen oder Morgen und Gestern im Raum des Lebens nicht zerfließen, sondern am Ufer des Hier und Heute anlanden. Ute Seifert führt uns achtsame Mitmenschen in kaum wahrnehmbaren Prozessen zu dem von ihr gewünschten „integralen Bewusstsein“ von Raum und Zeit. Die „Böhsen Onkelz“ brechen das ganze auf den simplen Nenner herunter:

„…Ich suche nach den Dingen, die nicht existiern

Ich höre dahin, wo nichts ist, ich will nicht verliern

ich glaub an das, was ich nicht weiß

an den Moment, den freien Flug

denn zuviel ist nicht genug

denn gestern war heute noch morgen

ein neuer Tag, neues Glück…
Leere füllt sich mit Erinnerung …

denn gestern war heute noch morgen… 

Ganz anders und sehr vielschichtig nähert sich Bernd Müller-Pflug den komplexen Sachverhalten, nämlich indem er zeichnerisch dokumentiert, was das Gestern, das Heute, das Morgen ihm an Lebenseindrücken gewährt und gewähren könnte. Zahllose Skizzen manifestieren für ihn die Augenblicke des Lebens, täglich entstehen sie, in unterschiedlicher Anzahl und vielfältigen Techniken – so schreibt er die Welt in unzähligen Momentaufnahmen, in denen Zustände, Gefühle, Begebenheiten oder Träume fixiert werden, um sich Heute und Morgen aus diesem Fundus eines Gestern mit Segmenten für seine Gemälde oder Hinterglasarbeiten zu bedienen. So finden sich in seinen Arbeiten bestimmte Formen, Motive, Symbole wieder und wieder, der Erinnerungspool kann beliebig ausgeschöpft werden. Verarbeitet wird das Material als bildnerisches Vokabular, wie bei einer Sprache umspielt es das formal sicher bestimmte Gerüst der Arbeit im semantischen, Bedeutung gebenden Sinn und steht für die Komplexität eines schwebenden, irritierend kontrahierenden bildnerischen Ausdrucks. Gegensätzlich, ambivalent deshalb, weil es das Schnell Identifizierbare einzelner „Vokabeln“ oder „Kürzel“ auf unterschiedlichsten Bedeutungsebenen in scheinbarer Beziehungslosigkeit verliert und dadurch infrage stellt – der Gegenstand ist wohl benennbar, für die Verknüpfung fehlt jedoch der Code – kurz gesagt, hier muss übersetzt werden, wenn man die Tiefen ausloten will. Von Ufer zu Ufer gelangt aber auch, wer nur die künstlerische Sprache von Farbe und Form der großformatigen Gemälde auf sich wirken lässt. Der großzügig-gestische Pinselduktus spricht für sich, und die Stabilität und tiefe Räumlichkeit der Verschränkungen, Liniengefüge und übereinander gelagerten Schichten unterschiedlicher Konstruktionen gehen mit der Lebendigkeit der Farbklänge eine nicht notwendig zu hinterfragende Harmonie ein.

Spannend ist der Dialog der beiden unterschiedlichen Künstlerpositionen. Im vorderen Raum führt die stille Strenge der einen in einen Aufruhr der Gefühle des anderen. Lineares und Explosives spannen eine farbige Brücke von Idee zu Idee- schreiten Sie einfach hinüber!

Im weiteren Verlauf von Aktion und Reaktion gibt ein Schlüsselloch-Objektchen mit Durchblick zum Roll-Tapeten-Blüten-Paradies Antwort auf einen riesigen Farbvulkan. Im Gang gibt es viel Mosaikartiges zu erschließen, und der letzte Raum schafft mit einer weiteren Ufer-Situartion von Ute Seifert die Rückbindung an den ersten Raum. Hier wird die monochrome Leinwand aber konfrontiert mit Müller-Pflugs speziell entwickelter Technik der Hinterglasmalerei und –Collage, die hier den ganz und gar gegenständlichen, sehnsuchtbesetzten Begriff des Vogelzuges thematisiert. Als Triptichon gestaltet, verstärkt diese Technik in hohem Maße durch ihren distanzierenden Spiegelglanz das Unwirkliche und überhöhende einer Wunschsituation.

Und der Kreis schließt sich mit einer weiteren Facette der übersetzungsidee: Ute Seiferts Bücher mit Braille-Schrift sind das neu zu erreichende Ufer des Lernen und Verstehens, der Teilhabe an Welt für blinde Menschen. So können sie wenigstens virtuell alle Ufer erreichen; in der Vorstellungskraft erhält die Welt Farbe und Form. Voraussetzung ist das Fingerspitzengefühl, und das nicht nur zum Lesen der Braille-Schrift, sondern auf allen Ebenen des Miteinander, des Dialogs, der Toleranz.

Augenzwinkernd gibt Bernd Müller-Pflug uns allen hierzu seine Hinter-Glas-Gummihandschuhe als finalen guten Rat mit auf den Weg zu neuen Ufern – denn ein heiteres Lächeln ist immer die allerbeste Verbindung von Ufer zu Ufer.

Hermanus Westendorp

Welche Zeit gerade die Zeit ist, sieht man ihr, der Zeit, nicht an. Auch nicht welche Zeit gerade an der Zeit ist. Zeit sieht man überhaupt nichts an, schon gar nicht auf den ersten Blick. Wohl sagen wir „die Zeiten ändern sich“. Aber das tun wir vor allem, wenn es um die Zeit um uns herum geht, um die Zeit der Anderen. Betrifft es aber uns selbst, so verneinen wir gern den verwirrenden Plural „Zeiten“ und benutzen lieber den beruhigenderen Singular. „Ich habe keine Zeit“, oder „ich werde mir Zeit nehmen“, heißt es dann. Zeit sieht man nur an etwas anderem, an etwas, das ihr ausgesetzt ist.

Zum Beispiel an uns selbst, wenn wir widerstrebend die Zeit als eine unentrinnbare Methode der Endlichkeit erfahren, womit diese an uns arbeitet. Aber es kommt auch vor, dass wir uns für die Zeit auf den Rücken legen, um uns genüsslich von ihr kraulen zu lassen. Es sind dies die Augenblicke, wo sie nicht als linearer Fluss in Erscheinung tritt, als Strom, der alles zwischen seine beiden Ufer zwängt und mitreißt, sondern als ein breites Meer, eine kreiselnde, vielschichtige Ebene, nur umgeben von einem imaginären, sich immer entfernenden Horizont, umfasst von einer Grenze, die nichts ausschließt, sondern alles vereint. Es ist diese Zeit, wozu Faust sagte “ 0 Augenblick verweile“, wohl wissend, dass damit die Wette verloren war. Aber das war es ihm wert. Es handelte sich ja um die Zeit der Liebenden, eine Zeit die ihrem Verfließen bekanntlich in der endlosen Ausdehnung zu entkommen sucht, eigentlich zeitlos werden möchte, dauerhaft. Dies im Gegensatz zur Zeit der Geängstigten. Diese bezieht ihre Bedrohung gerade daraus, dass sie dauerhaft erscheint, ungewollt endlos wird. 
Es ist dies die Zeit der Einsamen und Verlassenen, die Zeit der Schlaflosen, eine Zeit, die man anfleht, sie möge bald, ja sofort, aufhören.
Zeit, kurzum, ist eine Sache des zweiten Blickes, nicht selten des dritten, vierten oder sogar fünften Blickes. Und immer kommt sie im Gewand des ganz anderen daher.

So kann es passieren, zum Beispiel an einem sonnigen Morgen, kurz nach dem Aufwachen, dass du Zeuge wirst von dir selbst, zuschaust wie du aus einem grenzenlosen Etwas in eine schon vorhandene, auf dich wartende aber fremde Gegenwart hinein komponiert wirst, wie du Form annimmst, deinen gestrigen Namen zurückfindest, ihn akzeptierst oder vielleicht auch nur bloß hinnimmst, um dann mit ihm in den Tag zu gehen, ohne zu bemerken, dass du soeben, wie jeden Morgen, die Zeit erfunden hast.

Da ist dir etwas gelungen, und du darfst dich loben. Du könntest zum Beispiel „Applaudo“ rufen, so wie es eine schwarze Figur, eher ein Kopf, in einem der Malerbücher von Bernd Müller‑Pflug tut, Bücher, die hier zusammen mit größeren Arbeiten auf Lein gezeigt werden. Man sieht sie nicht ohne weiteres, diese Kopffigur, man muss sie suchen zwischen den Seiten mit den anderen schattenhaften Figuren die, wie sie zu warten scheinen, irgendwo hinschauen, irgendwo hinhören, ohne aber so recht zu wissen, wozu. Schwebende scheinen sie in einem Meer aus transparenter Farbe, Schwimmende, die nicht wissen ob sie sich dem rettenden Ufer nä­hern oder sich von ihm entfernen. Dieser dunkle Kopf aber schwimmt nicht, sondern spuckt einen Schwall Schwärze aus. Wie ein breiter Strom fließt oder schießt es ihm aus dem Munde, dem Wort „Applaudo“ entgegen, das ihm gegenüber auf der anderen Seite des kleinen Blattes steht. Das Bild zeigt Aktion und Reaktion in einem, es zeigt auf kleinstem Raum das Janusgesicht der Zeit. Du tust was, es tut sich was. Und wenn sich etwas tut, tut sich etwas in dir.

Es heißt: so wie man es in den Wald hineinruft, so schallt es zurück.

Aber wer wollte leugnen, dass im Walde auch immer die Angst da ist, dass dem eigenen Rufen kein Echo mehr entgegenkommt, dass nach dem eigenen Rufen kein „Applaudo“ zurück schallt. Dann glaubst du dich rettungslos verloren, außerhalb der Zeit. Es kann dir aber auch passieren, dass nicht du die Zeit findest, sondern die Zeit dich. Sie findet und erfindet dich gleichermaßen, so dass du dich nun nicht wie soeben noch in deinem Namen sammeln und retten kannst, sondern aus diesem sicheren Haus, das dein Name ist, hinaus gestoßen wirst. Unauffällig und leise musst du dich dann auswickeln, mehrfach werden, so dass du dich nicht mehr mit einem Blick überschauen kannst.

Du kommst zum Beispiel an einen Ort, wo du vor langer Zeit als Kind gespielt hast. Du riechst den gleichen Duft des Wassers wie damals als es ebenfalls gerade geregnet hatte. Aber dieser Duft ist nicht mehr derselbe wie damals, als du ihn zum ersten Mal gerochen hast, zum absolut ersten Mal. Du erinnerst dich zwar an den Duft, aber du erinnerst dich an ihn nur als Bild, nicht mehr als Ereignis. Zwischen damals und heute hat sich Zeit abgelagert, hat sich Zeit abgenützt, deine Zeit. Damals hast du dieses erste Mal gerochen als Vorbote einer grenzenlosen Zukunft, du hast nicht nur das Wasser gerochen, sondern du hast auch gerochen, dass es das erste Mal war.

Nun aber stehst du am Ufer und siehst Schiffe vorbeiziehen und weißt nicht, ob es die stählernen Frachter der Gegenwart sind oder die Papierschiffe, die du als Kind gefaltet hast. Du weißt nicht, ob du die Schiffe überhaupt siehst, du verlierst die Orientierung zwischen den Bildern der Gegenwart und denen der Vergangenheit.

Solche ambivalenten Bilder gibt es auch bei Bernd Müller‑Pflug. In den Malerbüchern, schattenhaft im wässrigen Licht oder im Licht des Wassers, wir wissen es nicht, stehen sie, die schweigenden Figuren, mit Booten unter dem Arm, Boote, die zu klein oder zu groß sind für wirkliche Überfahrten. Sie erinnern an Orpheus am Rande des Flusses Styx, der Fluss, der das Reich der Lebenden, das der Zeit, von dem Reich der Toten, das der Zeitlosigkeit, trennt. Er trauert um seine geliebte Eurydike und möchte hinüber zu ihr. Die Figuren auf den Bildern sitzen aber nicht im Boot, sondern sie tragen es, halten es im Arm, scheinen es zu wiegen wie ein kleines Kind. Sie warten in den uferlosen Räumen, schauen zu wie sich die Zeiten stauen, schichten und überlagern und scheinen zu ahnen, dass auch sie, wie die Zeit, eine Erfindung sind.

Alles kann man nicht erfahren. Um etwas zu sehen, muss ich hinschauen, und wer hinschaut, schaut zwangsläufig auch immer weg von dem, wo er gerade nicht hinschaut. Alles auf einmal ist immer zuviel, und so versuchen wir die Dinge zu ordnen, hintereinander zu stellen, überschaubar zu machen und nennen das Zeit.

Letztlich ist jeder Fluss ein Meer, nur hintereinander.

Wenn es nun aber darum geht, all diese Zeiten und die Geschichten, die sie ermöglichen, in Erfahrung zu verwandeln, dann kann es nicht darum gehen, sie zu erklären, sondern nur darum, sie zu zeigen, sich und anderen davon ein Bild zu machen, Eben dies tut Bernd Müller‑Pflug Er macht sich ein Bild von den Dingen und den Menschen und deren Zeiten und trägt damit gleichzeitig zu ihrem Bilde bei. Die feingliedrig aufgebauten Farbschichten auf den Blättern und Leinwänden dokumentieren mit ihren Ablagerungen und Verästelungen, wie der Künstler in mehreren Arbeitsgängen sich dem Bilde nähert, ein Bild das er vorher noch nicht kennt, aber irgendwie im Laufe der Arbeit zu finden hofft. Nicht nur das Bild als Ergebnis wird gezeigt, sondern auch dessen Entstehungsgeschichte wird sichtbar.

Die Bilder von Bernd Müller‑Pflug zeigen nicht nur was sie sind, sondern auch wie sie so geworden sind. Die Malerei verschweigt nicht wie sie entstanden ist, sondern legt Zeugnis davon ab, wie sie sich in der Zeit durch Ablagerungen und Übermalungen konstituiert hat. Staffelungen, Vergitterungen, Reihungen, Totale und Close‑Ups in den Farbschichten vermitteln das Gefühl, sowohl hier als auch dort zu sein, sowohl Vergangenes, Heutiges, als auch Zukünftiges zu sehen. Aktion, Reaktion, „Applaudo“. Aber sehr oft, und in den Arbeiten der letzten Jahren zunehmend, kommen einem in diesen komplexen, vielschichtigen Räumen atavistisch anmutende Bildinseln entgegen. Oft sind es Zitate aus einer Zeit, als die Abzüge in den Fotoalben noch wellige Ränder hatten und vergilbten. Diese Zeit ist vorbei, aber nicht verschwunden, verwandelt lebt sie in uns weiter. Und wer sich, wie Bernd Müller‑Pflug in seinen Bildern um den Stand der Dinge kümmert, ihn befragt, sich fragt, welche Rolle die Malerei dabei spielen kann, wenn es darum geht, sich von ihm ein Bild zu machen, der kann nicht schweigen von jenen Zeiten innerhalb der Zeit, der muss reden, in diesem Falle zeigen, was sich erst dem zweiten, dritten, vierten oder fünften Blick offenbart.

Da gibt es zum Beispiel, ebenfalls gut versteckt, oder vielleicht sollte ich sagen beschützt, in einem der Bücher das Bild eines Leuchtschiffes, das in einem wunderbar gelben, sehr leeren Raum liegt. Es ist ein gemalter Raum, wolkig und vielschichtig wie die meisten Räume auf den Bildern von Bernd Müller‑Pflug . Und in diesem Raum nun liegt das kleine Leuchtschiff, das nicht gemalt ist sondern gedruckt, von einem Foto durchgedruckt. Es ist das Foto von einem Schiff, das es so heute, in der Zeit der Satellitennavigation, nicht mehr gibt. Es ist ein Zitat quer durch die Zeiten, ein Zitat, das sich in die gemalte, leicht bedrohliche Gegenwart des gelben Raums hinein frisst und so das Unvereinbare der Zeiten im Bilde versöhnt.

Die Versöhnung des Unvereinbaren, vielleicht ist auch das Zeit.

Und so stehen sie da, die Figuren in den Bildern, abwesend und anwesend auf einmal. Anonyme, isolierte Figuren, oft nur Köpfe, Statisten in einem entleerten aber keinesfalls leeren Raum, konfrontiert mit ihren eigenen Geheimnissen, die sie und wir nur erahnen können. Sie stehen in der Nähe von Schlitten, Häusern oder Nestern, und immer liegt über allem eine Atmosphäre des Wartens und Lauschens.

Das Warten und Lauschen ist sowieso eine Grundgebärde in den Bildern von Bernd Müller‑Pflug. Der Stuhl, der Tisch, der Vogelkäfig, das Haus, das Boot, der Schlitten; sie alle scheinen zu ahnen, dass noch etwas kommt. Und wenn in den Bildern zunächst keine Figurationen zu erkennen sind, sondern die Malerei sich konzentriert auf die Erschaffung von Raum und Gegenraum, erzeugen Raster, Staffelungen, Reihungen und Farbschichten eine Präsenz, die Raum und Zeit umfasst, ohne dieser zu verfallen.

In dem Vorwort zu einem 1995 erschienenen Katalog mit Arbeiten von Bernd Müller‑Pflug zitiert der Autor Rainer B. Schoßig den Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin wie folgt: „Unsere leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles Körperliche auffassen.“

Schoßig verwendet das Zitat, um darauf hinzuweisen, dass die Malerei von Bernd Müller‑Pflug nicht nur körperlichen Raum darstellt, sondern dem Körper und dessen Raum entstammt. Ähnliches, so kann an dieser Stelle ergänzt werden, lässt sich auch von der Zeit sagen. Auch sie wird sowohl in ihrem Entstehen als auch in ihrer Rezeption vom Körper bedingt, und das Bild von ihr wird immer auch ein Bild vom Körper oder mehr noch, ein körperliches Bild sein. Es wurde bereits gesagt: Die Zeit ist auch eine Methode der Unendlichkeit, womit diese an unserem Körper arbeitet. Wir sehen sie nicht, können uns aber ein Bild von ihr und damit von uns machen, so wie es Bernd Müller‑Pflug tut. Seine Bilder legen Zeugnis davon ab, dass das Schweigen der Dinge nicht zwangsläufig unsere Sprachlosigkeit zur Folge haben muss. So sei es denn. Zeige es. Sage es. Ja, spucke es heraus.